Darmstadt hat jede Menge Kies

Ein Kommentar im Darmstädter Echo, vom 24. Mai 2022 über das Projekt RessStadtQuartier

30.05.2022

Lässt sich das Material bestehender Bauten für Neues nutzen? Fachleute untersuchen, was alles in der Stadt steckt. Von Thomas Wolff

DARMSTADT. Baustoffe werden derzeit rasant teurer, Materialien wie Beton und Stahl knapp – einer der Gründe, warum die Baukosten fortwährend steigen. Das stellt sowohl private Bauherren als auch die Kommune vor schwerwiegende Probleme. Aber eigentlich ist die Stadt ja schon voller Stein, Glas und Metall: Was in den Altbauten steckt, könnte man für Neues nutzen – eine Idee, die in Darmstadt gerade systematisch untersucht wird.

Fachleute der TU, der Verwaltung und der heimischen IT-Firma Umgis arbeiten daran. Jetzt hoffen sie auf eine großzügige Förderung durch den Bund. Denn was die Darmstädter herausfinden, könnte als Pilotprojekt auch anderen vom Materialmangel geplagten Kommunen nützen, glauben sie.

114 170 Euro haben die Darmstädter als Fördergeld beantragt, der Antrag beim Forschungsministerium des Bundes läuft. Der etwas rätselhafte Projektname: „Urbanes Stoffmanagement: Instrumente für die ressourceneffiziente Entwicklung von Stadtquartieren.“ Dabei wollen die Forschenden bis 2024 herausfinden, wie sich die Stadt als Materiallager ganz praktisch nutzen ließe.

Die Idealvorstellung des Bau- und Planungsdezernenten Michael Kolmer (Grüne): Die Informationen, wie viel brauchbares Material in einem Gebäude steckt, solle in allen Phasen der Stadtentwicklung berücksichtigt und mit diskutiert werden. Das würde nicht nur Baustoff sparen, sagt er. „Wenn ich nicht so viel Stahl neu herstellen muss“, sagt Kolmer, „spare ich jede Menge CO2“ – denn der fällt tonnenweise bei der aufwendigen Produktion an.

Auch Kies als Grundstoff für weitere Baumaterialien ist nur herzustellen, wenn massiv in die Natur eingegriffen wird. Der Dezernent fragt: „Wollen wir in einem Ballungsraum wie unserem weiter neue Kiesgruben ausbaggern?“

Was alles in Darmstadt steckt und sich auch für die nächste Generation von Gebäuden nutzen ließe, das haben die Fachleute in den vergangenen drei Jahren schon erfasst. Auf die Tonne genau könne man das aber nicht sagen, sagt die TU-Professorin Liselotte Schebek, Expertin für Ressourcen-Management. Aber im Bundesgebiet wird der Bestand auf rund 15 Milliarden Tonen Material geschätzt – ein „anthropogenes Materiallager für den Hochbau“, sagt das Bauministerium des Bundes.

In Form eines Katasters haben Schebek und ihre Projektpartner das tatsächlich schon „für das ganze Stadtgebiet erfasst“, sagt sie. Heute könne man den Entscheidern „auf Quartiersebene entsprechende Daten bereitstellen“. Wie kommt sie zu diesen Daten? Woher wissen die Fachleute, wie viel Sand, Kies und Beton in einzelnen Häusern, in Blöcken und Quartieren stecken?

Antwort: Sie schätzen. Aber auf fundierter Grundlage.

Die Entstehungszeit der Gebäude ist einer der Schlüssel. Die Forschenden haben historische Bauakten gewälzt, haben herausgefunden, welche Bauweisen typisch waren in bestimmten Zeiten. Wann wurden Decken aus Holz verbaut und mit Lehm oder Schutt verfüllt? Wann ist eine Betondecke wahrscheinlicher?

Nach drei Jahren solcher Grundlagenforschung wirken die Fachleute zuversichtlich, dass ihre Daten über Darmstadt einigermaßen hinhauen.

Das ist eine Fleißarbeit, aber auch eine Pionierarbeit, sagt der Informatiker Martin Wacker von Umgis. Seine Firma hat die Daten in einem Modell-Kataster zusammengetragen, die Kommunen Darmstadt und Wiesbaden sind mit im Boot. „Für ein bestimmtes Stadtgebiet gibt‘s sowas noch nirgends in Deutschland“, sagt Wacker. Ein guter Grund, warum das Fördergeld für das Vorhaben nach Hessen fließen könnte. Und dann?

Dezernent Kolmer sagt, mit diesen Daten könne die Kommune bei jedem Gebäude abwägen, was man damit anfängt. „Ist es interessant, das Gebäude weiterzuentwickeln? Oder wollen wir das Material für einen Neubau nutzen? Oder ist das Material nicht geeignet dafür, weil es nicht mehr den Standards entspricht?“ All das könne man künftig „fundierter diskutieren“, sagt Kolmer. Ein Werkzeug, „das auch für private Investoren von großem Interesse sein dürfte“.

Ganz neu ist die Idee übrigens nicht. Der Stadtrat verweist auf zwei spektakuläre Beispiele, wo Baumaterial älterer Gebäude und Vorhaben aufbereitet und in großem Stile wiederverwendet wurde: der Alnatura-Campus, wo Baustoff aus dem Vorhaben „Stuttgart 21“ recycelt wurde, und das Hundertwasserhaus, das zu großen Teilen aus wiederverwendetem Material gebaut ist.